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Queerfeindlichkeit

Nonbinary: „Geisteskrankheiten“

In einem Livestream am 9. September 2025 auf der Plattform Twitch, den er am 11. September 2025 auch auf seinem YouTube Kanal KuchenTV Uncut veröffentlichte, pathologisierte KuchenTV Menschen mit nonbinären Geschlechtsidentitäten, stellte sie stereotyp und abwertend dar.

Er sagte:

„Ich finde, Gender Roles ist halt wie gesagt einfach das Dümmste, was existiert.“

„Sowas wie ’nicht binär‘, keine Ahnung, agender, ich weiß nicht was es gibt, Digga, genderfluid, genderfluid zum Beispiel, dass man sich das jeden Tag irgendwie neu aussucht. Das sind, Digga, das sind einfach, das sind einfach Geisteskrankheiten. So für mich sind das einfach Menschen, die brauchen irgendwas im Leben, so die haben kein Selbstvertrauen, die haben kein Selbstbewusstsein, die haben nix, oder denken von sich selber, dass sie nichts haben, was sie im Leben interessant macht und deswegen müssen sie ihr Geschlecht in den Vordergrund stellen, weil es das Einzige ist, wo sie mal so tun können, als wenn sie irgendwas in ihrem beschissenen Leben erreicht hätten.“[sic!]

KuchenTV stellte Menschen mit nonbinären Geschlechtsidentitäten stereotyp und abwertend als „Opfer“ dar:

„Dann haben auch alle bunte Haare auf jeden Fall, warum auch immer. Digga, sehen aus wie die letzten, Digga, wie die letzten Opfer, Digga, sorry, aber man muss das mal so sagen. Googelt mal ’nicht binäre Person‘, alter, da wisst ihr schon genau, alles klar, Digga, da ist in der Kindheit einiges schief gelaufen.“[sic!]

„Geisteskrankheit“

Mit der Pathologisierung von Menschen mit nonbinären Geschlechtsidentitäten vertritt KuchenTV eine populäre Erzählung der radikalen Rechten in den USA und in Europa. Die Geschlechtsidentitäten von trans Personen erkennt KuchenTV zwar an, aber nur, wenn sie binär sind, also wenn sich trans Personen als eindeutig männlich oder eindeutig weiblich identifizieren. Je nach Datenquelle, Altersgruppe und Methodik beziffern Studien den Anteil der Transpersonen mit nonbinären Geschlechtsidentitäten mit 20 bis 48%. (Quellen: 1, 2, 3, 4, 5)

In seinem Livestream bediente sich KuchenTV für die Pathologisierung von Menschen mit nonbinären Geschlechtsidentitäten des Begriffs „Geisteskrankheiten“. Er verwendete nicht die ohnehin ableistische, umgangssprachliche Redewendung „das ist geisteskrank“, sondern sagte, dass es sich bei „nicht binären„, „agender“ und „genderfluiden“ Geschlechtsidentitäten um „Geisteskrankheiten“ handle.

Der Begriff „Geisteskrankheit“ wird in der Psychiatrie, der klinischen Psychologie und in der Wissenschaft seit vielen Jahrzehnten nicht mehr verwendet. Besonders durch die Verwendung des Begriffs in der Zeit des Nationalsozialismus wurde er im Zusammenhang mit der Verfolgung und Ermordung von psychisch kranken Menschen stark geprägt. Diese wurden im Nationalsozialismus als „unwertes Leben“ betrachtet. Daraus entwickelte sich in der Fachwelt des Nachkriegsdeutschlands eine zunehmende Abkehr von dem Begriff „Geisteskrankheit“.

In den 1980er Jahren war der Begriff bereits weitgehend aus der Psychologie und der Psychiatrie verdrängt. Er ist heute nur noch vereinzelt in veralteten Gesetzestexten zu finden. Im Fachgebrauch gilt der Begriff heute als überholt, stigmatisierend und abwertend. Heute werden die Bezeichnungen „psychische Erkrankung“ oder „psychische Störung“ verwendet.

Psychische Störung?

Nicht nur KuchenTVs Begriffswahl widerspricht dem heutigen Konsens der wissenschaftlichen Fachwelt, sondern auch die Bewertung nonbinärer Geschlechtsidentitäten als psychische „Störung“ oder „Erkrankung“.

WHO / ICD-11

Die World Health Organization (WHO) hat im Januar 2022 mit dem ICD-11, die elfte und neueste Version der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) eingeführt.

Im ICD-11 wurde wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung getragen, wonach Transidentitäten und nonbinäre Geschlechtsidentitäten nicht mehr als Krankheiten oder Störungen betrachtet werden. Die WHO schreibt dazu:

„The newly revised ICD-11 codes includes new changes to reflect modern understanding of sexual health and gender identity. ICD-11 has redefined gender identity-related health, replacing outdated diagnostic categories like ICD-10’s ‚transsexualism‘ and ‚gender identity disorder of children‘ with ‚gender incongruence of adolescence and adulthood‘ and ‚gender incongruence of childhood# respectively. Gender incongruence has been moved out of the ‚Mental and behavioural disorders‘ chapter and into the new ‚Conditions related to sexual health‘ chapter. This reflects current knowledge that trans-related and gender diverse identities are not conditions of mental ill-health, and that classifying them as such can cause enormous stigma.“

Übersetzt mit Hilfe von DeepL.com:

„Die neu überarbeiteten ICD-11-Codes enthalten neue Änderungen, die das moderne Verständnis von sexueller Gesundheit und Geschlechtsidentität widerspiegeln. Die ICD-11 hat die geschlechtsidentitätsbezogene Gesundheit neu definiert und veraltete Diagnosekategorien wie ‚Transsexualismus‘ und ‚Geschlechtsidentitätsstörung bei Kindern‘ aus der ICD-10 durch ‚Geschlechtsinkongruenz im Jugend- und Erwachsenenalter‘ bzw. ‚Geschlechtsinkongruenz im Kindesalter‘ ersetzt. Geschlechtsinkongruenz wurde aus dem Kapitel ‚Psychische und Verhaltensstörungen‘ in das neue Kapitel ‚Zustände im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit‘ verschoben. Dies spiegelt die aktuelle Erkenntnis wider, dass transbezogene und geschlechtsdiverse Identitäten keine psychischen Erkrankungen sind und dass ihre Einstufung als solche zu einer enormen Stigmatisierung führen kann.“

Mit dem ICD-11 der WHO werden Transidentität und nonbinäre Geschlechtsidentitäten also nicht mehr als Krankheiten gesehen. Die Klassifizierung fokussiert sich nach den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen auf die medizinischen, psychologischen und sozialen Bedürfnisse der Betroffenen. Ziel der Neucodierung dieses Bereichs des ICD ist es, den Betroffenen Versorgung und Zugang zu medizinischen Leistungen zu ermöglichen und die Geschlechtsidentität selbst zu entpathologisieren.

APA / DSM-5

Die American Psychological Association (APA), die das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) herausgibt, hat den wissenschaftlichen Erkenntnissen bereits 2013 mit dem DSM-5 Rechnung getragen.

Dazu schreibt die APA:

„DSM-5 aims to avoid stigma and ensure clinical care for individuals who see and feel themselves to be a
different gender than their assigned gender. It replaces the diagnostic name ‚gender identity disorder‘
with ‚gender dysphoria,‘ as well as makes other important clarifications in the criteria. It is important
to note that gender nonconformity is not in itself a mental disorder. The critical element of gender dys-
phoria is the presence of clinically significant distress associated with the condition.“

Übersetzt mit Hilfe von DeepL.com:

„DSM-5 zielt darauf ab, Stigmatisierung zu vermeiden und die klinische Versorgung von Personen sicherzustellen, die sich selbst als einem anderen Geschlecht zugehörig sehen und fühlen als dem ihnen zugewiesenen Geschlecht. Es ersetzt die Diagnose ‚Geschlechtsidentitätsstörung‘ durch ‚Geschlechtsdysphorie‘ und nimmt weitere wichtige Klarstellungen in den Kriterien vor. Es ist wichtig zu beachten, dass Geschlechtsnonkonformität an sich keine psychische Störung ist. Das entscheidende Element der Geschlechtsdysphorie ist das Vorliegen einer klinisch signifikanten Belastung im Zusammenhang mit dem Zustand.“

Nonbinäre Geschlechtsidentitäten waren zwar mit diesen Formulierungen des DSM-5 bereits erfasst, mit der Revision DSM-5-TR präzisierte die APA:

„A strong desire to be of the other gender (or some alternative gender different from one’s assigned gender)“

Übersetzt:

„Ein starkes Verlangen, dem anderen Geschlecht anzugehören (oder einer alternativen Geschlechtsidentität, die sich vom zugewiesenen Geschlecht unterscheidet).“

Ein Störungswert ergibt sich laut DSM-5 nicht aus der Geschlechtsdysphorie selbst, sondern aus einer klinisch signifikanten Belastung oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen, die mit der Geschlechtsdysphorie zusammenhängen.

Das DSM wird als offizielles Klassifikationssystem für Diagnose und Abrechnung im Gesundheitssystem der USA angewendet. In vielen anderen Ländern, auch in Deutschland, wird das DSM in der Forschung, in wissenschaftlichen Publikationen und bei der Ausarbeitung von Leitlinien referenziert.

Situation in Deutschland

Auch wenn der ICD-11 in Deutschland noch nicht verbindlich eingeführt ist und für die Abrechnung und die offizielle Dokumentation noch der ICD-10 verwendet wird, so referenzieren fachliche Leitlinien bereits ICD-11-Codes und die darin widergespiegelte Fachmeinung.

Die Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) beruft sich seit 2018 auf den ICD-11 und den DSM-5.

In der aktuellen Leitlinie, gültig seit März 2025, heißt es:

„In der medizinischen Fachwelt hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein Paradigmenwechsel im Verständnis nonkonformer Geschlechtsidentitäten im Sinne derer Entpathologisierung vollzogen. Diese Entpathologisierung ist dem Wandel im Umgang mit Homosexualität vergleichbar, welche von der WHO 1992 in der ICD-10 aus dem Katalog psychiatrischer Diagnosen gestrichen wurde. Demnach gibt es in der ICD-11 keine so genannten Störungen der Geschlechtsidentität (F64) im Sinne psychischer Erkrankungen mehr. Stattdessen wurde die Diagnose der Geschlechtsinkongruenz (HA60) unter einer neuen Rubrik Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit (engl. conditions related to sexual health) neu eingeführt (WHO, 2022).“

„Die Begriffe Störungen der Geschlechtsidentität und Transsexualismus gelten als obsolet und werden in dieser Leitlinie nicht verwendet, ebenso wie dies bereits bei der S3-Leitlinie für das Erwachsenenalter Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit (DGfS, 2018) umgesetzt ist. Diese in der ICD-11 vorgenommene neue Konzeptualisierung non-konformer Geschlechtsidentitäten und deren Begrifflichkeit repräsentieren somit einen relevanten Fortschritt des weltweit anerkannten medizinischen Erkenntnisstandes. Sie sind daher für diese Leitlinie maßgeblich ungeachtet des Umstandes, dass in der aktuellen Übergangsphase bis zur administrativen Einführung der ICD-11 medizinische Diagnosen weiterhin noch nach der ICD-10 zu kodieren sind.“

Die Richtlinien der AWMF werden in Deutschland von Fachärzt*innen, Psychotherapeut*innen, Kliniken, ambulanten Einrichtungen, Gesundheitsämtern, Krankenkassen, Fachgesellschaften und Gerichten als Referenz anerkannt und genutzt.

„Geschlecht aussuchen“

KuchenTVs Aussage, genderfluide Menschen würden sich „jeden Tag“ ihr Geschlecht „neu aussuchen“, spiegelt ein falsches Verständnis fluider Geschlechtsidentitäten wider. Diese sind, wie alle anderen Geschlechtsidentitäten auch, fundamentaler, erlebter Teil des Selbst und keine willkürliche Entscheidung.

Die American Psychological Association (APA) definiert Geschlechtsidentität so:

„a person’s basic internal sense of being a man, woman, and/or another gender (e.g., gender queer, gender fluid).“

Übersetzt:

„das grundlegende innere Empfinden einer Person, ein Mann, eine Frau und/oder ein anderes Geschlecht (z. B. genderqueer, genderfluid) zu sein.“

Das Erleben der eigenen Geschlechtsidentität ist abzugrenzen von willkürlichen Entscheidungen.

KuchenTVs Haltung zu Menschen mit nonbinärer Geschlechtsidentität weist strukturelle Gemeinsamkeiten mit den Sichtweisen transfeindlicher Rechter zu Transidentität auf. Diese gehen bei Transidentität von einer „gewählten Rolle“ oder einer „Krankheit“ aus und nicht von einer gegebenen Eigenschaft. Ähnliche Überzeugungen treten bei homofeindlichen Rechten auf. Diese betrachten Homosexualität als Entscheidung für eine sexuelle Präferenz, die Menschen „ausgetrieben“ werden könne oder als eine „Krankheit“, von der sie „geheilt“ werden müssten. Homofeindliche Rechte leugnen, dass es sich um eine gegebene sexuelle Präferenz als Teil der sexuellen Identität handelt.

KuchenTVs Darstellung, nonbinäre Geschlechtsidentitäten würden von Betroffenen als Ersatz für einen Mangel an Selbstwertgefühl willkürlich gewählt, entbehrt einer wissenschaftlichen Grundlage.

Conclusion

KuchenTVs Pathologisierung von Menschen mit nonbinären Geschlechtsidentitäten steht im Widerspruch zu den auf wissenschaftlichem Konsens basierenden Bewertungen der World Health Organization (WHO), der American Psychological Association (APA) und zu den in der deutschen Fachwelt anerkannten Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF).

KuchenTV hat eine Ausbildung als Sozialassistent begonnen und nicht abgeschlossen. KuchenFiles sind keine Bildungshintergründe bekannt, die KuchenTV befähigen könnten, selbst und ohne Berufung auf wissenschaftliche Quellen fachliche Bewertungen im Bereich der Psychiatrie oder Psychologie vorzunehmen. Mit seiner Darstellung von Transidentität als rein binär, beweist KuchenTV leider erneut fehlende Fachkenntnisse.

Ähnlich wie bei seinen Cybermobbing Inhalten gegen dicke Menschen, zielen auch KuchenTVs Aussagen über Menschen mit nonbinären Geschlechtsidentitäten nicht etwa auf die Adressierung der medizinischen Versorgung der Betroffenen ab, sondern auf die Stigmatisierung und Abwertung dieser Gruppen.

Seine Aussagen sind nicht die ersten dieser Art. Im Dezember 2023 schrieb er auf der Plattform Twitter „nonbinary gibt es nicht.“ Damit widersprach KuchenTV der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das am 10. Oktober 2017 geurteilt hatte:

„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) schützt die geschlechtliche Identität. Es schützt auch die geschlechtliche Identität derjenigen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen.“ Quelle: 1 BvR 2019/16